Christiania (Kristiania) - Meyers Konversations-Lexikon 1886. 4714 MeyA4B4
Christiania (Kristiania), norweg. Stift (früher Akershus oder Aggershus genannt) im südöstlichen Teil des Reichs, grenzt im N. an das Stift Hamar, im W. an die Stifter Bergen und Christianssand, im S. an letzteres und an das Skagerrak, im O. an Schweden und umfaßt jetzt, da seit 1862 das Stift Hamar nebst den Vogteien Bamble und Nedre Telemarken davon abgetrennt sind, die vier Ämter: Akershus, Smaalenene, Buskerud, Jarlsberg mit Laurvik, ferner die Stadt C. Der Größe nach ist es jetzt das kleinste unter den sechs Stiftern Norwegens: 26,118 qkm (nach Strelbitskys Berechnung 26,719 qkm = 485,2 QM.); aber es umfaßt die fruchtbarsten und angebautesten Teile des Landes und ist daher von allen am besten bevölkert (1876: 489,915 Einw.). Die Bevölkerung treibt Viehzucht, Ackerbau, Waldkultur, Fischfang, Schiffahrt und Handel (s. unten). Es wird geteilt in 17 Propsteien mit 91 Pastoraten und 185 Gemeinden nebst 7 Kapellen.
Die gleichnamige Hauptstadt des Stifts (hierzu der Stadtplan) und zugleich des Königreichs, ganz umgeben von dem Amt Akershus, mit einem Gebiet von 10 qkm, liegt im Hintergrund des malerischen, 110 km langen Christianiafjords (s. d.) in einer schönen Gegend am Fuß des Ekebergs, von welchem man eine schöne und weite Aussicht hat. Die Stadt wird von dem Flüßchen Akerselv durchflossen und umfaßt außer der eigentlichen Stadt, Opslo oder Gamle-Byen ("Altstadt"), mehrere Vorstädte, wie Piperviken, Ruselökken, Hammersborg, Grünerlökken, Sagene, Rodelökken, Grönland und Leret, welche sich fortwährend vergrößern; 1857 zählten sie nur 808 und 1876 bereits 29,915 Einw. Die Straßen der eigentlichen Stadt sind meist breit u. gerade, gut gepflastert und haben Trottoirs. Nur in den entlegenern Vorstädten trifft man noch unregelmäßige Straßen und Hütten, die aber mehr und mehr Palästen weichen müssen. Überall sind die Straßen mit Kloaken versehen und werden mit Gas erleuchtet; gutes und reichliches Trinkwasser erhält die Stadt durch eine Wasserleitung, welche von einem hoch gelegenen See (Maridalsvandet genannt) ausgeht. Das Klima von C. ist wegen der reinen, klaren Luft sehr gesund; die mittlere Jahrestemperatur beträgt 5,3° C., doch ist die Differenz zwischen der Temperatur des Winters (Januar -5°) und Sommers (Juli 16½° C.) groß. Von dem Mittelpunkt der alten Stadt am Wasser gehen viele Straßen ab, wo man oft plötzlich von stattlichen, massiven Gebäuden auf rauhe Felsen und Wiesenland kommt. Die breite Karl-Johanns-Gade, die unmittelbar nach der imposanten weißen Fronte des königlichen Schlosses (Slottet) auf einer Anhöhe hinter der Stadt führt, ist jeder europäischen Hauptstadt würdig. Außer der Kathedrale, "Vor Frelsers Kirke" genannt, besitzt die Stadt noch elf Kirchen. Unter den öffentlichen Gebäuden sind die Börse, das Sitzungshaus des Storthings, das Rechtslokal und das Theater zu nennen. Auf dem alten Marktplatz steht eine sehr hübsche Markthalle, ein Ziegelbau in halbbyzantinischem Stil. Das alte Schloß, der Sitz der norwegisch-dänischen Könige bis 1719, existiert nur zum Teil noch; das neue, von Karl Johann erbaute ist ein großes, aber einfaches Gebäude. Unfern dieses Schlosses ist eine zweite Markthalle neuerdings (1882-83) errichtet. Die Bevölkerung Christianias ist in raschem Wachstum begriffen; sie betrug 1801 nur 8931, 1835: 24,045, 1855: 39,958, 1865: 65,514, 1876: 76,866 (ohne die Vorstädte) und 1885 mit diesen 128,301 Einw. Die industrielle Thätigkeit in der Stadt und Umgegend ist nicht unbedeutend; in blühendem Betrieb stehen Baumwollspinnereien, Webereien, mechanische Werkstätten, Papier- und Ölmühlen, Seifensiedereien, Branntweinbrennereien, Bierbrauereien, zahlreiche Sägemühlen, Ziegelbrennereien etc. In Rücksicht des Handels ist C. die wichtigste Stadt des Landes und hat Bergen schon überflügelt. In den sichern und geräumigen Hafen, der freilich 3-4 Monate lang durch Eis unzugänglich ist, da man bei Ringene, 2 km von der Stadt (oder, wenn auch dort Eis hindert, bei Dröbak) aus- und einladet, liefen 1881: 1148 Segelschiffe mit einer Tragfähigkeit von 181,726 Ton. (wovon 1014 mit 148,666 T. beladen) und 637 Dampfschiffe von 284,602 T. (wovon 627 mit 277,845 T. beladen) ein sowie 815 Segelschiffe mit 136,757 T. u. 499 Dampfschiffe mit 242,021 T. aus. Der Wert der Einfuhr betrug 1882: 73,490,560 Kronen, der der Ausfuhr 25,365,200 Kronen. Die Zolleinnahmen betrugen 1882: 8,518,008 Kronen. Die Stadt selbst besaß 1881: 238 Segelschiffe von 97,041 T. und 26 Dampfschiffe von 6902 T. Dampfboote vermitteln die Verbindung mit der nächsten Umgebung und mit allen norwegischen Städten längs der ganzen Küste von Frederikshald an der schwedischen bis Wadsö sowie mit Gotenburg, Frederikshavn, Kopenhagen, Stettin, Lübeck, London, den Niederlanden, Frankreich und Nordamerika (via Bergen). Eisenbahnen vermitteln den Verkehr mit Schweden (über Kongsvinger) und mit dem Binnenland: nach Drammen und über Hamar und Röros nach Drontheim. Von Eidsvold gehen mehrere Dampfschiffe auf dem Vormen und dem langen See Mjösen nach Hamar, Lillehammer und Gjövik und stellen die Verbindung mit den Ämtern Hedemarken und Christians her. Eine andre Eisenbahn ist durch Smaalenene nach Frederikshald an der schwedischen Grenze angelegt, um sich dem schwedischen Eisenbahnnetz anzuschließen. So wird C. immer mehr der Mittelpunkt auch des Binnenhandels von Norwegen.
Außerdem auch Zentrum des norwegischen Buchhandels, ist C. eine ebenso gebildete wie wohlhabende Stadt und gibt ein merkwürdiges Beispiel von dem Fortschritt, den Norwegen seit seiner Trennung von Dänemark gemacht hat. Unter den Bildungsanstalten, welche C. zum wissenschaftlichen Mittelpunkt des Landes machen, steht die Universität Fridericiana (1811 durch freiwillige Beiträge gegründet und mit einem Fonds von 64,000 Speziesthaler dotiert) obenan. Die Zahl der ordentlichen Professoren beträgt 54, wozu noch eine Anzahl sogen. Stipendiaten (d. h. Dozenten) kommt; die der Studierenden ca. 2400. Mit der Universität verbunden sind naturhistorische Museen, ein Münzkabinett, ein Museum skandinavischer Altertümer, ein ethnographisches Museum, eine Bibliothek von 230,000 Bänden, ein botanischer Garten und ein astronomisches und magnetisches Observatorium. Außerdem besitzt C. eine höhere Militär- und eine Kriegsschule, mehrere Gymnasien und Bürgerschulen, Erziehungsinstitute, eine technische Schule und eine Kunst- und Zeichenschule, mit der eine Nationalgalerie in Verbindung steht; von sonstigen gemeinnützigen Anstalten mehrere Spitäler, Kleinkinderschulen, ein Bußgefängnis, Zuchthaus, Armenhäuser u. dgl. Auch gibt es daselbst mehrere Bankinstitute (Königlich norwegische Bank, Nationalbank, Kreditkasse, Bank von C. etc.) sowie gelehrte und künstlerische Gesellschaften. C. ist Sitz des Storthings, der Regierung von Norwegen, des höchsten Gerichts, des Stiftsamtmanns und eines Bischofs sowie eines deutschen Berufskonsuls. Die Umgebungen Christianias sind überaus schön. Aus dem ruhigen Becken des Fjords, welcher zwischen blauen Inseln nach S. hin verschwindet, erhebt sich das Land allmählich nach allen Seiten, besäet mit freundlichen Landsitzen (Lökker) und Bauernhäusern und, wo diese verschwinden, bis auf die Gipfel der Berge mit Wald bedeckt. Die alte Feste Akershus, die auf einem Felsen emporragt, ist jetzt zum großen Teil geschleift und dient als Arsenal und Übungsplatz für das Militär; sie bietet außerdem schöne Spaziergänge mit Aussichten über die Stadt und den buchten- und inselreichen Fjord, die zu den lieblichsten im nördlichen Europa gehören. Im W. der Stadt liegt die Halbinsel Ladegaardsöen (einst Bygdö genannt, welch letzterer Name wieder aufgenommen ist) mit einem großen und schönen Park und dem Lustschloß Oskarshall, das mit zahlreichen Malereien norwegischer Künstler ausgestattet ist; im Fjord, der Festung Akershus gegenüber, das Inselchen Hovedö mit den Ruinen eines alten Cistercienserklosters. Etwa 25 km entfernt ist Krogkleven, eine tiefe Schlucht auf einer bedeutenden Höhe, von welcher sich in Kongens und Dronningens Udsigt die herrlichen Aussichten auf die von hohen Gebirgen umgebene, ein Kesselthal um den See Tyrifjord bildende Vogtei Ringerike eröffnen, wohin die Bewohner der Hauptstadt häufig wallfahrten. Bemerkenswert sind auch die großen, gewässerreichen Wälder, Nordmarken genannt, 20-60 km von C. und zum Eisenwerk Bärum gehörig.
Geschichte. Die alte Stadt (Opslo, wurde 1054 von Harald III., Hardraade, gegründet und war frühzeitig Sitz eines Bischofs, mit einer Kathedrale, einer Kollegiatkirche (Marienkirche), welche die zweite in der Ordnung der 14 dem König unmittelbar untergeordneten Kapellen war, nebst mehreren andern Kirchen und drei Klöstern. Im spätern Mittelalter (der Unionszeit) war Opslo die eigentliche Hauptstadt Norwegens, ohne jedoch zu großer Bedeutung zu gelangen. Ihr Handel war zu Ende des 13. Jahrh. meistens in den Händen hanseatischer Kaufleute, wie denn auch zahlreiche deutsche Handwerker (sogen. Schuhmacher) sich daselbst niedergelassen hatten. Nachdem die Macht der Hansa gebrochen war, begann auch der Handel der eingebornen Bürger sich etwas zu heben; doch wirkten dem Aufblühen des Wohlstandes verheerende Feuersbrünste, welche die Stadt im 16. und 17. Jahrh. wiederholt heimsuchten, störend entgegen. Nach der letzten derselben (1624) gründete Christian IV. auf der andern Seite des Fjords das eigentliche C., das anfänglich befestigt war, bis infolge der wachsenden Bevölkerung und abermaliger Feuersbrünste zu Ende des 17. Jahrh. die Wälle geschleift wurden. 1716 war C. einen Monat lang von der Armee Karls XII. von Schweden besetzt, der vergeblich Akershus belagerte und der Stadt großen Schaden zufügte. Diesen Drangsalen folgte während des 18. Jahrh. eine Periode blühenden Handelsverkehrs (namentlich mit England) und großen Wohlstandes, die infolge der Union Norwegens mit Schweden allerdings eine empfindliche Unterbrechung erlitt; doch hat C. in den folgenden Jahrzehnten in jeder Hinsicht wieder bedeutende Fortschritte gemacht.
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